Zwischen Vergangenheit und Zukunft liegt die Wahrheit.

(Unbekannt)

 

 

Ich glaube nicht an Chroniken.

Oder vielleicht besser: ich glaube nicht an die Wichtigkeit der Tatsache, dass ein Leben chronologisch verläuft. Ich meine: ich glaube natürlich an die zeitliche Abfolge von Dingen; wir Menschen werden vom ersten bis zum ungefähr dreizehnten, vierzehnten Geburtstag jedes Jahr gefeiert und feiern evtl. fortan selbst: fünfzehn, sechzehn, siebzehn, achtzehn, neunzehn, zwanzig, einundzwanzig, zweiundzwanzig…

– aber die Abfolge an sich bedeutet noch nichts.

Wir können mit siebzehn jemanden treffen, den wir kaum wahrnehmen, aber begegnet uns derselbe Mensch zehn Jahre später, kann er in uns etwas anstoßen, das uns und unser Leben verändert. Und nur, weil wir eine Lebensfrage empfinden und dieser Mensch die für uns wichtige Weiterentwicklung in sich trägt. Wir müssen nicht einmal wissen, dass wir diesen Menschen schon einmal getroffen haben, als wir siebzehn waren; ja wir werden es eher nicht wissen, weil wir ihn ja kaum wahrgenommen haben. Und hätten wir geahnt, wie wichtig er einmal für uns sein würde, hätten wir versucht, ihn irgendwie fest, in unserem Leben zu halten… aber selbst, wenn wir das geschafft hätten – wir hätten heute nicht dasselbe für ihn empfunden, nicht diese Wichtigkeit für uns in genau diesem Moment unseres Lebens, denn seine Entwicklung wäre dann auch eine andere gewesen. Wann sind wir ihm also wirklich begegnet? Heute, gerade eben. Aber in der Chronik steht, dass unsere Begegnung damals stattgefunden hat…

Umgekehrt funktioniert es auch: lange begleitet uns jemand, der uns wichtig ist, und zu irgendeinem Zeitpunkt stellen wir fest: es ist nicht mehr fruchtbar; wir „brauchen“ etwas anderes, jemand anderen für unsere Weiterentwicklung. In Chroniken steht, dass Menschen zwanzig Jahre miteinander gelebt hätten, dreißig Jahre, vierzig. Was sagt das aus? Viel und nichts. Jeder von uns kann kurze Beziehungen von unglaublicher Intensität nennen und lang währende, in denen die Beteiligten erstarrt sind, oder lange sehr konstruktive, oder kurze, bei denen wir uns fragen, was wir da eigentlich gesucht, erwartet haben. Und manchmal – selten, aber es passiert – lernen wir die, die uns beeinflussen, nicht einmal mehr kennen. Uns berührt ein Foto von einem lange verstorbenen Verwandten, wir befragen die Oma, die Mutter, jemand erzählt uns etwas zu dieser Person – und sie ersteht vor unserem geistigen Auge; ihre Handlungen oder Sichtweisen können uns in der Tat beeinflussen, weitergegeben durch Personen, die ihrerseits durch sie beeinflusst worden sind. Natürlich ist es eine Mischung aus dieser verstorbenen Person, der, die es weitergibt und uns, die wir es hören – aber es prägt mit.

Unser „Schicksal“ meinen wir im Nachhinein zu „verstehen“: manchmal deuten wir Geschehnisse, die in der Vergangenheit liegen, um, um damit die heutigen Verhältnisse zu erklären. Und so ist es ja auch: das Heute ist aufgrund der Vergangenheit Realität, nur sind uns die kleinen und kleinsten Weichenstellungen nie so bewusst, wie es die großen Einschnitte sind.

Viele von uns können einen Moment in ihrem Leben nennen, in dem uns ein Gegenüber beeindruckt hat, nur einen Augenblick lang, aber wir vergessen es einfach nicht. Und ab und zu erinnern wir uns sehr bewusst an diesen Moment. Der kann eine ganz und gar alltägliche Sache gewesen sein, aber durch irgendetwas ist es haften geblieben. Und wenn es keine „Heldentat“, sondern eine ganz banale Sache war, sagen wir dem Beteiligten dieses Moments nur sehr selten irgendwann, dass wir hin und wieder an diese Sache denken, gerade, wenn sie nichts augenscheinlich Bedeutendes für uns oder diesen anderen Menschen gewesen ist. Und sind die Wege auseinander gegangen, ist es noch bemerkenswerter, dass man sich an manche Menschen und manche ihrer Worte oder Handlungen manchmal derart intensiv erinnert… – und wissen wir, womit wir anderen im Gedächtnis geblieben sind, oder warum…?

Immer geht es um den Augenblick, um Bewusstheit, um Aufrichtigkeit. Was wird uns noch gerecht, wen oder was brauchen wir gerade, was tut uns gut? Was ist gerade unser Thema im Leben, mit was müssen wir uns auseinandersetzen? Oder: müssen wir handeln…?

***

Ein Bild braucht keine Jahreszahl.

Kunstwerke sind immer auch Zeugen ihrer Zeit, aber es darf sich darin nicht erschöpfen. Wenn ich heute etwas zum Thema Arbeitslosigkeit mache, dann kann das Geschaffene heute in diesem Kontext gesehen werden, muss es aber nicht, je nachdem, wie der Betrachter deutet.

Stellen wir uns vor, dass in fünfzig oder hundert Jahren die Gesellschaft anders funktioniert; der Sozialstaat, wie er heute noch organisiert ist, hat versagt, es gibt nun ein bedingungsloses Grundeinkommen, und vollkommene Arbeitslosigkeit ist sozusagen „freiwillig“ bzw. die Arbeitslosigkeit, wie wir sie heute empfinden, existiert so nicht mehr verbunden mit den Gefühlen, die wir heute dazu empfinden. Und stellen wir uns weiter vor, mein Bild von damals, das „Arbeitslosigkeit“ zum Thema hatte, existierte noch, es wird noch gezeigt. Ein Mensch, der in diese neue Zeit hineingeboren ist, kann mein Bild entweder geschichtlich deuten, wenn er weiß, dass mein Thema einmal ein so großes gesellschaftliches gewesen ist, er kann aber auch „nicht wissen“, ganz anders deuten, etwas ganz anderes sehen.

Nämlich das, was den neuen Gedanken in ihm anstößt, der seine Weiterentwicklung bedeutet.

Was ist wünschenswerter: dass er weiß, dass das einmal ein großes gesellschaftliches Thema gewesen ist und zur Kenntnis nimmt, dass auch ich mich damals damit auseinandergesetzt habe, oder dass meine Arbeit diesen neuen Gedanken in ihm anstößt, egal, was mein Thema war? Und egal, was es ist, das ihn derzeit bewegt: Farbe und Komposition meines Bildes von damals bringen ihn heute dazu, eine Gedankenschwelle zu überschreiten… – ein überwältigender Gedanke.

Es ist toll, Symbole zu verstehen, es ist sehr wünschenswert, die Geschichte zu kennen. Ich möchte das auch bei mir nicht vernachlässigen. Aber zu wissen, auf wen oder was sich z. B. irgendein Maler in seiner Arbeit bezieht oder welchen Kollegen er damit zitiert, das ist ein schönes Zusatzwissen. Gut, es zu haben – aber eventuell völlig unerheblich für die eigene Weiterentwicklung „durch Kunst“, durch genau diese Arbeit, die ich gerade betrachte.

Kunst braucht kein „Etikett“, und Menschen brauchen es auch nicht. Obwohl nicht jedes Angebot für jeden passt, es durchaus manchmal passender sein kann, es auszuschlagen, so ist doch trotzdem jeder ein Angebot zu jedem Zeitpunkt seines Lebens, und man erhält Angebote in Gestalt seiner Mitmenschen oder ihrer Kreationen zu jedem Zeitpunkt. Obwohl es die Chronologie in unserem Leben gibt, man „mit der Zeit“ wächst und sich entwickelt, sollten wir ihr nicht größere Bedeutung zumessen, als ihr zusteht. Denn durch diese Überbewertung ist es so traurig, engstirnigen jungen Menschen zu begegnen und so beflügelnd, im Geiste jung gebliebene Greise zu erleben, die sich nicht selbst „ausgeschaltet“ haben – es „passt“ so nicht in unser Bild von Entwicklung. Messen wir der Chronologie etwas weniger Wert bei, nehmen wir auch die Menschen wieder wert-freier auf bzw. werten auf ihre Persönlichkeit bezogen, nicht aufgrund dessen, was eine Gesellschaft an Normen und Moden mitunter aufstellt.

Denn was bewegt uns so sehr an Filmen wie „Almanya“ oder an den Geschichten, die John Irving erfindet und so virtuos niederschreibt? Dass Generationen, Menschen aufeinander treffen, dass sie miteinander leben, dass sie sich er-leben – dass diese Begegnungen wichtig sind für alle Betroffenen. Dass jeder am anderen wächst, unabhängig vom eigenen Alter und das des anderen, unabhängig vom Geschlecht, unabhängig von beinahe allen äußeren Faktoren, sogar unabhängig vom Tod. Und dass der Zeitpunkt der Begegnung zwar wichtig ist, eben weil sie sich dann ereignet, aber dass dieser Zeitpunkt nicht „benannt“ oder festgehalten werden muss. Der Gewinn liegt nicht im Datum. Der Gewinn liegt im Geschehen der Begegnung an sich.

Ein wunderschönes Beispiel der letzten Zeit ist für mich einmal mehr ein Film: „Hugo Cabret“. Nicht nur, dass er ein ganz großartiges Bilder- und Technikmeisterwerk ist (wer kann, MUSS ihn einfach auf der großen Leinwand, gefilmt mit dieser neuartigen 3D-Technik, sehen); er verbindet Vergangenheit und Film-Gegenwart dadurch, dass diese für den heutigen Zuschauer auch schon wieder Vergangenheit ist, mit heute, jetzt, er tröstet, er versöhnt den Vorzug, dass „Zeit“ uns bewusst sein lässt mit der Grausamkeit ihrer Tatsache an sich. Und obwohl „Zeit“ die ganze Zeit eine Rolle spielt – veranschaulicht durch riesige Uhrwerke und Zifferblätter, die durchweg präsent sind –, ist in der Geschichte dieses Films nichts unwichtiger als die Chronologie der Leben und Begegnungen. Eine der für den jungen Hugo wichtigsten Begegnungen mit seinem Vater findet nach dessen Tod statt – ergreifend, wunderschön – – – und wahr. Und eine der wichtigsten Begegnungen im Leben des Filmkünstlers Méliès, der von 1861 bis 1938 tatsächlich gelebt hat, findet im Film im hohen Alter statt, zu einem Zeitpunkt, an dem er selbst länger schon nicht mehr am Leben teilnimmt. Für den verstorbenen Vater des Filmhelden wie für den alten, in sich zurückgezogenen Filmkünstler könnten die „Etiketten“, die vordergründig durchaus passen – „tot“ gleich wirkungslos, ohne Einfluss auf die Lebenden und „in sich zurückgezogen“ gleich wirkungslos, unerreichbar – unpassender nicht sein. Und obwohl es ein Film ist, Fiktion, ist die Aussage doch wahr, Realität. Solche Dinge passieren.

Das ist auch ein kleines Wunder des Lebens.

Menschen brauchen kein Etikett. Und Kunst, die Kreation des Menschen, braucht es auch nicht. Wir scheinen eine Linie zu leben, die einen Anfang und ein Ende hat, aber so wirkt unser Leben nicht. Unser Leben wirkt wie eine Explosion; es strahlt nach allen Seiten, es kann Menschen erreichen, die uns nicht mal persönlich kennen. Wir werden von Leben berührt, die wir nicht persönlich kennen. Erhalten wir uns die Offenheit von Auge und Geist für alles um uns her, nur so können wir uns zur Wehr setzen gegen Geschehnisse, die nicht gut für uns sind. Und nur so können wir die schönen Dinge, die geschehen, wahrnehmen und weiterdenken, sie so transformiert zu unserer Sache machen, die wir dann wiederum mit anderen teilen können.

Dankeschön.

 

Sabine Pint, März 2012

 

 

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